Nicht alle Probleme der Praxis lassen sich direkt mit Satz 3.7 behandeln. In diesem Abschnitt behandeln wir eine Reihe von mehr oder weniger abweichenden Problemstellungen. Ziel ist es, die prinzipielle Vorgehensweise der Variationsrechnung anhand einiger in der Praxis auftretender Aufgabenstellungen und anhand konkreter Beispiele vorzuführen. Dabei wird nicht größte Allgemeinheit angestrebt, sondern immer von Voraussetzungen ausgegangen, die die durchgeführten Rechnungen ohne Weiteres rechtfertigen. Im Wesentlichen betrifft das die Annahme der -Stetigkeit von Lagrange-Funktion
und optimaler Lösung
des jeweiligen Problems.
4.1 Natürliche Randbedingungen
Wir greifen wieder das Variationsproblem mit festen Endpunkten auf, allerdings mit einer Abweichung: An der Stelle wird für die Lösung
kein Wert
vorgegeben. Das heißt: Jeder Wert
ist erlaubt.
Zur Lösung gehen wir grundsätzlich genauso vor wie in Abschnitt 3, nehmen also an, wir hätten bereits eine Extremstelle gefunden und bilden an dieser die Gâteaux-Ableitung
in Richtung eines zulässigen
. Im Unterschied zu Abschnitt 3 sind jetzt aber auch
-Funktionen zur Variation
zulässig, die nur noch
erfüllen, aber beliebige Werte
annehmen. Für solche
verschwindet der Ausdruck
in (6) nicht mehr. Wir müssen die Variation also neu bestimmen.
Die Variation sei zulässig,
.
für alle zulässigen .
Fall 1: Rechter Rand ist 0. In diesem Fall verschwindet der erste Term und das Integral muss für sich genommen gleich null sein. Wie in Abschnitt 3 folgern wir daraus die Euler-Gleichung als notwendige Bedingung, die in einem Optimum erfüllt sein muss:
Fall 2: Rechter Rand ist ungleich 0. Da wir vom Integral bereits wissen, dass es verschwinden muss, muss auch der erste Term separat gleich null sein. Wenn wir also in Richtung von mit
variieren, bekommen wir die zusätzliche natürliche Randbedingung für den freien Rand:
Beispiel 4.1: Rotations-Minimalfläche
Es seien und
vorgegeben. Gesucht ist eine Funktion
mit
für
, die bei Rotation um die t-Achse die Mantelfläche mit kleinstmöglichem Inhalt erzeugt, siehe die folgende Skizze:
Der Radius des Rotationskörpers und damit der Mantelfläche in Abhängigkeit von ist
. Der Umfang ist also
. Dies muss nun noch mit der Bogenlänge multipliziert werden. Die Formel hierfür haben wir bereits mehrfach verwendet, sie lautet
.
Damit bekommen wir:
für das auf
zu minimierende Funktional.
Die Lagrange-Funktion lautet
.
Sie hängt nicht explizit von der Zeit ab, so dass wir genau wie im Beispiel der Brachistochrone aus der Euler-Gleichung für die Gleichungen
erhalten. Mit unserer konkreten Lagrange-Funktion schreibt sich die letzte Gleichung jetzt als
mit einer Konstanten . Wir lösen diese DGL hier nicht, geben dafür aber die natürliche Randbedingung an. Diese lautet für eine Optimallösung
gemäß (14):
.
Da wir fordern, ergibt sich die Bedingung
, das heißt die optimale Kurve muss senkrecht auf die Gerade
treffen.
4.2 Transversalitätsbedingung
Ausgangspunkt ist wieder das Variationsproblem (A), aber jetzt darf der rechte Randpunkt auch noch in t-Richtung variieren. Wir geben eine stetig differenzierbare Funktion vor und fordern lediglich, dass eine Lösung
von (5) auf der Kurve
liegen soll, dass also
gelten soll, wobei
noch unbekannt ist. Die Aufgabenstellung lautet damit
wobei wir von zur Vereinfachung wieder unterstellen, es handle sich um eine
-Funktion. Die obere Grenze
des Integrals hängt von
ab.
Die Situation ist in der folgenden Skizze erläutert:
Wir gehen wieder genauso vor, wie wir es beim Grundproblem in Abschnitt 3 gemacht haben, das heißt wir nehmen an, wir hätten eine optimale Lösung und den dazugehörigen Wert
bereits gefunden. Wir variieren die Lösung, vergleichen also mit anderen Kandidaten
.
Die Bedingung brauchen wir, damit
zulässig ist (
muss durch den Punkt
gehen), während
einen beliebigen Wert annehmen darf. Die Vergleichsfunktion
treffe nun in
auf die Kurve
, was durch
ausgedrückt wird. Es ist
.
So bekommen wir für die Vergleichsfunktion den Wert des Funktionals
und wissen, dass die Funktion für
ein Minimum annimmt. Notwendig muss also
gelten, wobei
die Ableitung von
nach
bezeichne. Ob
tatsächlich differenzierbar ist, müsste eigentlich erst geklärt werden, wir unterstellen das hier einfach.
Es ist also
Um auszurechnen, brauchen wir die sogenannte Leibniz-Regel.
Satz: Leibniz-Regel
gilt für -Funktionen
und
sowie für ein stetiges
, das partiell nach
differenzierbar ist.
Herleitung:
Wir bekommen für unser Problem:
.
Differenzierbarkeit von wird unterstellt. Zusätzlich wird die Identität in
in differenziert und das liefert
Diese Beziehung setzt man in den obigen Ausdruck für ein und integriert dort den zweiten Term im Integral partiell (so wie in Abschnitt 3).
Wir erhalten auf diese Weise die Beziehung
für das optimale und das zugehörige optimale
. Wieder machen wir es wie oben und lassen erst einmal nur solche
zur Variation zu, für die
. Daraus folgt, dass bereits der erste Term (das Integral) verschwinden muss, so dass wir wie üblich die Euler-Gleichung erhalten:
Zweite Bedingung ist die Transversalitätsbedingung:
mit
Dazu kommt als drittes die linke Randbedingung:
Vierte Bedingung ist:
Alle diese Bedingungen müssen durch die optimale Lösung erfüllt werden.
Beispiel 4.2: Kürzester Abstand von einer Kurve
Gegeben sei ein Punkt und eine Funktion
, die auf einem Intervall
definiert sei mit
. Man bestimme den kürzesten Abstand des Punktes vom Graphen von der Funktion
.
Wir vereinfachen die Aufgabe und nehmen an, die kürzeste Verbindung sei Graph einer Funktion , so wie in obiger Skizze. Der Abstand längs dieser Verbindungslinie ist dann durch die Bogenlänge gegeben und definiert das Funktional
für ein noch unbekanntes .
ist zu minimieren unter den Nebenbedingungen
Dasselbe Funktional hatten wir schon im Beispiel mit der kürzesten Strecke zwischen zwei Punkten verwendet, so dass wir schon wissen, dass alle Extremalen, die zusätzlich die Bedingung erfüllen, Geraden der Form
sind. Die Transversalitätsbedingung hat für die Lagrange-Funktion dieses Beispiels das Aussehen
und das bedeutet: . Wir bekommen als Kandidaten für optimale Lösungen also Geradenstücke, die senkrecht auf den Graphen von
treffen:
.
Konkretes Beispiel für eine Funktion:
Bekannt:
Transversalitätsbedingung:
Nun müssen wir die Funktion durch Wahl von
treffen:
Wir können nun noch den tatsächlichen kürzesten Abstand bestimmen. Die Weglänge beträgt
.
4.3 Bolza-Variationsaufgabe
Bisher lautete das zu minimierende Funktional
.
Dieses ändern wir nun ab und betrachten stattdessen
Hier sind
-Funktionen, so dass die Funktionale
und
für
Gâteaux-Ableitungen besitzen:
und analog
.
(19) mit freien Randbedingungen und
heißt Bolza-Aufgabe. Im Sonderfall
spricht man auch von Mayer-Aufgabe.
Um die Bolza-Aufgabe zu lösen, gehen wir nach dem bekannten Schema vor: Wir setzen in einem angenommenen Optimum die Gâteaux-Ableitung gleich 0 und integrieren dann partiell:
Wenn wir zunächst wieder nur in Richtung von Funktionen mit
variieren, bekommen wir wie gehabt die Euler-Gleichung. Variieren wir anschließend auch noch in Richtung von Funktionen mit
und
bzw. mit
und
, so erhalten wir die natürlichen Randbedingungen
4.4 Integranden mit höheren Ableitungen
Gegenüber dem Grundproblem
fassen wir nun eine Erweiterung ins Auge, bei der auch höhere Ableitungen der gesuchten Funktion auftreten dürfen:
Dabei lassen wir uns vorerst noch offen, ob die Werte und
für
frei oder vorgegeben sein sollen.
Um Schreibarbeit zu sparen, beschränken wir uns auf den Fall (zweite Ableitung tritt auf, aber keine höheren), bei dem die Vorgehensweise völlig klar wird. Erneut nehmen wir an, wir hätten ein optimales
schon gefunden und variieren in Richtung von Funktionen
. So erhalten wir Kandidaten
und bekommen für diese die Bedingung
Differentiation unter dem Integralzeichen und (zweimalige) partielle Integration liefern
Die Rechnung ist sicher gerechtfertigt, wenn man von und
-Stetigkeit annimmt.
Variiert man nun über alle -Funktionen mit
und
, so folgt die Eulergleichung
Sie entspricht Gleichung (8) in Satz 3.6 für das Problem (21) mit festen Randwerten
.
Lässt man Randwerte frei, kommen aus dem zweiten Term von noch zusätzliche Bedingungen hinzu. Zur Illustration folgt ein Beispiel.
Beispiel 4.3: Balkenbiegung
Ein zwischen und
eingespannter Balken wird für
durch eine Last
um einen Wert
ausgelenkt (
ist die Biegelinie). Die Biegesteifigkeit betrage
. Durch die feste Einspannung ergeben sich feste Randbedingungen
.
Hier benutzen wir statt
, um die unabhängige Variable zu bezeichnen, die eine Ortsvariable ist. Entsprechend bezeichnen wir Ableitungen der gesuchten Funktion
mit
statt mit
.
Nähert man die Krümmung des Balkens durch an, so ergibt sich für die Formänderungsarbeit
.
Aus dem physikalischen Prinzip der minimalen Formänderungsarbeit schließen wir, dass im Gleichgewicht minimal sein muss. Gemäß (22) lautet die zugehörige Euler-Gleichung
.
Diese ist bekannt als Differentialgleichung der Balkenbiegung.
4.5 Extremalkurven im Rn
Die Variationsaufgabe (A) lässt sich ohne Weiteres auf Kurven im übertragen. Sei dazu
eine Kurve im mit Ableitung
.
Entsprechend betrachten wir folgendes Problem.
Aufgabe (B): Variationsaufgabe im
Es seien mit
und
.
Die Funktion sei stetig und bezüglich der letzten beiden Komponenten stetig partiell differenzierbar. Dann ist das folgende Problem zu lösen:
Die Herangehensweise bleibt gleich der bei Variationsaufgabe (A). Wir nehmen an, wir hätten bereits eine Lösung bestimmt und betrachten nun Variationen
,
wobei “zulässig” sein muss. Zulässig bedeutet im Fall der Aufgabe (B):
-Funktionen mit
. Betrachtet man in Erweiterung von (B) freie Randwerte, dürfen auch die entsprechenden
dort beliebige Werte annehmen. Da
in
ein Minimum annimmt, muss die Gâteaux-Ableitung von
im Punkt
in Richtung aller obigen
verschwinden. Das führt auf
.
Wenn man pauschal sogar -Differenzierbarkeit voraussetzt, darf man partiell integrieren und erhält die Euler-Gleichungen
Ohne die Voraussetzung der -Stetigkeit ist der Beweis von (24) etwas technischer und beruht auf dem Lemma von Dubois-Reymond.
Das System gewöhnlicher Differentialgleichungen (24) spielt eine bedeutende Rolle in der analytischen Mechanik beim sogenannten Hamiltonschen Prinzip. Man betrachtet dabei ein mechanisches System mit Freiheitsgraden, dessen Zustand
durch
“generalisierte Koordinaten”
beschrieben wird. Diese Koordinaten sind nicht unbedingt Ortsvariablen. Es sei
die kinetische Energie und
die potentielle Energie des Systems.
Man bezeichnet die Differenz der beiden
als Lagrange-Funktion des Systems und
als Wirkung im Zeitintervall . Das Hamilton‘sche Prinzip besagt nun, dass in konservativen Systemen (das sind solche, bei denen die Gesamtenergie erhalten bleibt) die Zustandsfunktion
eine Extremale des Wirkungsintegrals
ist. Demnach genügt
dem System (24) gewöhnlicher Differentialgleichungen, die in diesem Fall Lagrange‘sche Bewegungsgleichungen heißen.
Beispiel 4.4: kinetische und potentielle Energie in Matrixform
Es seien die kinetische und die potentielle Energie gegeben in der Form
,
mit und einer symmetrischen Matrix
. Dann lauten die Euler-Gleichungen
, oder in vektorieller Form geschrieben:
Dies nennt man auch die Lagrange’schen Bewegungsgleichungen. Erfüllt die Gleichungen (25), dann bleibt “längs”
die gesamte Energie des Systems konstant:
.
Um dies zu sehen, rechnet man nach
,
letzteres wegen der Symmetrie von .
Beispiel 4.5: Konkretes Beispiel mit Feder-Masse-Schwinger
Wir betrachten ein Feder-Masse-System mit zwei gleichen Massen und drei gleichen Federn wie in der folgenden Skizze.
Gesucht werden die Auslenkungen und
aus der Ruhelage. Die kinetische Energie des Systems zur Zeit
beträgt
und die potentielle Energie beträgt
.
Demnach genügen die Funktionen und
dem DGL-System
Bei bekanntem Anfangszustand des Systems lässt sich der Zustand zu einem Zeitpunkt
berechnen.
4.6 Bemerkung zum Hamilton-Prinzip
Die gesamte Energie eines Systems als Summe von kinetischer und potentieller Energie hat eine anschauliche Bedeutung, aber es ist nicht ohne weiteres klar, welche Bedeutung die Wirkung haben soll, die über die Differenz aus kinetischer und potentieller Energie definiert ist. Tatsächlich gibt es in der Physik unterschiedliche Definitionen der Wirkung und verschiedene “Prinzipien der minimalen Wirkung”. Eines der ersten hat Maupertuis in seinem Aufsatz “Accord de différentes lois de la nature qui avaient jusqu’ici paru incompatibles” gegeben. Dasselbe Prinzip hat auch Euler formuliert. Euler untersucht die Flugbahn eines Projektils der Masse
von
nach
wie in der folgenden Skizze.
Die Position zur Zeit ist
und der Geschwindigkeitsvektor ist
. Euler betrachtet den Impuls (Schwung, Wucht) des Projektils, der als
definiert ist und postuliert, dass es sich auf jener Bahn bewegen wird, längs der die als Kurvenintegral definierte Wirkung
minimiert wird. Hier haben wir die Definition des Kurvenintegrals herangezogen (die Kurve wird durch parametrisiert) und unterstellt, dass
und
. Mit der Vorstellung eines Integrals als Grenzfall einer Summe ist hier die Wirkung als “aufsummierter Impuls” längs des Wegs definiert und die Aussage, dass diese Wirkung minimal sein soll, hat durchaus anschauliche Bedeutung. Der Integrand ist gerade
, die doppelte kinetische Energie und in dieser Form hat Maupertuis sein Prinzip postuliert.
Wenn man nun voraussetzt, dass die Gesamtenergie eines Systems als Summe von potentieller und kinetischer Energie erhalten bleibt, also , dann muss die Minimierung von
und
auf das Gleiche hinauslaufen. Es ist aber
gerade die Lagrange-Funktion. Über die Lagrange-Funktion angegeben behält das Hamilton-Prinzip auch außerhalb der Newtonschen Mechanik seine Gültigkeit.